Betriebswirtschaftslehre als wissenschaftliche Disziplin

Aus Operations-Research-Wiki
Wechseln zu: Navigation, Suche

(Zelewski in Corsten/Reiß, 2008)

Einen ersten, groben Einblick in das Selbstverständnis der Betriebswirtschaftslehre vermittelt ihre Positionierung innerhalb einer Systematik wissenschaftlicher Disziplinen. Allerdings gibt es keine allgemeinverbindliche Wissenschaftssystematik. Die folgende Abbildung bietet daher nur eine Positionierungshilfe (Zelewski in Corsten/Reiß, 2008).


Wissenschaftssystematische Einordnung der Betriebswirtschaftslehre:

Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Die Miniaturansicht konnte nicht am vorgesehenen Ort gespeichert werden


Die BWL wird zu den Objektwissenschaften gezählt. D.h. das Untersuchungsobjekt selbst gehört nicht zum Bereich der Wissenschaften. Die Objektwissenschaften wiederum kann man wie folgt unterteilen:

  1. Realwissenschaften
  2. Formalwissenschaften
  3. Strukturwissenschaften

Die Realwissenschaften untersuchen reale Objekte, die außerhalb wissenschaftlicher Sprachsysteme existieren. Die Formalwissenschaften setzen sich dagegen mit formalen Objekten auseinander, die innerhalb wissenschaftlicher Sprachsysteme ‑ wie z.B. in logisch‑mathematischen Kalkülen ‑ definiert sind. Die Strukturwissenschaften erforschen allgemeine Strukturen, die sich sowohl bei realen als auch bei formalen Objekten manifestieren können.

Die BWL kann primär den Realwissenschaften zugeordnet werden. Dafür spricht zum einen, dass die BWL wirtschaftliche Handlungen in Betrieben untersucht. Zum anderen besitzen Handlungen wie auch Betriebe eine reale Qualität.

Aber auch die Formal‑ und Strukturwissenschaften spielen für betriebswirtschaftliche Untersuchungen eine bedeutende Rolle und bereichern die Betriebswirtschaftslehre durch eine Fülle von theoretischen und methodischen Konzepten. Aus den Strukturwissenschaften z.B. System‑ und problemtheoretische Konzepte für die Strukturierung von komplexen betriebswirtschaftlichen Sachverhalten und aus den Formalwissenschaften stammt dagegen u.a. die Methode der deduktiven Schlussfolgerungen.

Eine weitere Aufspaltung der Realwissenschaften erweist sich allerdings als problematisch. Die Ausdifferenzierung in Geistes‑ und Naturwissenschaften genießt zwar eine lange Tradition("zwei wissenschaftliche Kulturen"). Diese Unterscheidung ist jedoch unfruchtbar und irreführend, denn die Unterstellung der Verwendung grundverschiedener Erkenntnismethoden in Geistes‑ und Naturwissenschaften ist falsch.

Kennzeichen der Naturwissenschaften sind die nomographische Methode (Suche nach allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten (nomischen Hypothesen)) und eine empirische Überprüfung hinsichtlich ihrer tatsächlichen Geltung. Die Geisteswissenschaften hingegen sind gekennzeichnet durch eine eigenständige idiographische Methode, die darauf abzielt, das "Wesen" ihrer Untersuchungsobjekte zu verstehen Außerdem erhebt die geisteswissenschaftliche Hermeneutik den Anspruch, ein solches Wesensverständnis gewinnen zu können, ohne auf die nomisch basierten Erklärungsmuster der Naturwissenschaften zurückzugreifen.

Die BWL kann nun dieses geisteswissenschaftliche Versprechen kaum einzulösen. Die Wissenschaftspraxis zeigt, dass angeblich rein naturwissenschaftliche Methode der gesetzesbasierten Erklärung auch in herausragenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen ‑ wie etwa in der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften ‑ eine weite Verbreitung genießt. Somit ist die Konstruktion eines krassen Gegensatzes von Betriebswirtschaftslehre versus Naturwissenschaften irreführend. Es erscheint sinnvoller, die Realwissenschaften in objektbezogener Weise in Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften aufzuspalten. Die Naturwissenschaften befassen sich mit allen natürlichen realen Objekten (z.B. auch Menschen als natürliche biologische Organismen); die Kulturwissenschaften studieren dagegen Verhaltensweisen von Menschen, die über rein biologische Verhaltensaspekte hinausreichen sowie Artefakte, die von Menschen künstlich erschaffen wurden. Somit ist die BWL zweifellos eine Kulturwissenschaft, denn sie untersucht Handlungen in einem Artefakt menschlicher Kultur ‑ dem Betrieb.

Die Kulturwissenschaften lassen sich wiederum aufspalten in

  1. normative und
  2. nicht-normative

Kulturwissenschaften.

Die normativen Kulturwissenschaften nehmen zu Normen für menschliche Verhaltensweisen in wertender Weise Stellung; die nicht‑normativen Kulturwissenschaften untersuchen zwar ebenfalls Verhaltensnormen, bewerten diese aber nicht hinsichtlich ihrer individuellen oder kollektiven Erwünschtheit. Es erfolgt lediglich eine "wertfreie" Untersuchung z.B. der logischen Konsequenzen bestimmter Normen oder Widerspruchsfreiheit eines Normensystems.

Der normative Charakter der Betriebswirtschaftslehre ist umstritten.